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"Drama & Regie" ("Writing & Directing"), Book, Publication, Writings
 

Publikation: Drama und Regie (Writing and Directing)




Georg Tiefenbach: Drama und Regie. Lars von Triers Breaking the Waves, Dancer in the Dark, Dogville. Verlag: Königshausen & Neumann, Reihe: Film und Medien 2010. 252 Seiten.
ISBN: 987-3-8260-4096-2
252 Seiten. EUR 29,80


Zum Autor:
mail@georg-tiefenbach.de

Zum Verlag:
http://koenigshausen-neumann.gebhardt-riegel.de/product_info.php/info/p6491_Drama-und-Regie--Lars-von-Triers--Breaking-the-Waves--Dancer-in-the-Dark--Dogville---Film---Medium---Diskurs-Bd--29---29-80.html/XTCsid/a0d0a63e692ce68bda51a71989442ed7


Inhalt:
1) EINLEITUNG

2) BREAKING THE WAVES
Synopsis und Daten
2.1) Dramaturgie: Einflüsse & Inspirationsquellen
2.1.1) Romantik, Idealismus & Märchen: Dumas Fils, Guld Hjerte
2.1.2) Kierkegaard & Dreyer, Die Bibel: Passionsweg
2.2) Realisierung: Naturalismus, Romantik & Konzeptuelle Brüche
2.2.1) Naturalistischer Stil zur glaubwürdigen Darstellung der Geschichte
2.2.2) Stilistische Mittel: Handkamera, Filmmaterial, Kostüme, Ton
2.2.3) Konzeptuelle Brüche: Romantische Malerei & Unmittelbar Direkter Blick
2.2.3.1) Film & Malerei, oder
Die Gestaltung und dramaturgische Funktion der Kapitelbilder
2.2.3.2) Der Direkte Blick in die Kamera:
Erörterungen allgemeiner und spezieller Art
2.3) Religion & Emotionen
2.3.1) Werkimmanente Interpretation des letzen Bildes:
Bess, das religiöse Bewusstsein
2.3.2) Die Gestaltung des Abspanns, oder
Wie man den Zuschauer zum Weinen bringt

3) DANCER IN THE DARK
Synopsis und Daten
3.1) Dramaturgie: Drehbuchanalyse
3.1.1) Stringenter Aufbau und handwerkliche Konstruktion der Geschichte
3.1.2) Figuren
3.1.2.1) ‚Because in a Musical nothing dreadful ever happens’: Selma
3.1.2.2) Empathieträgerfiguren: Kathy, Jeff, Brenda
3.2) Realisierung: Realismus im Musical
3.2.1) ‚You’re in a Musical’: ‚Superrealismus’ & Stilisierung
3.2.2) Editing: Emotional & Time Cut, sowie
Erörterung über filmisches Denken
3.3) Szenenanalyse des Finales: ‚Hinrichtungsszenen im Film sind ein dankbares Motiv’
3.4) Kunst & Emotionen: Selma, das künstlerische Bewusstsein

4) DOGVILLE
Synopsis und Daten
4.1) Dramaturgie: U.S. of A. - Land of Opportunities Teil I
4.1.1) Arroganz und Rache, Dreigroschenoper
4.1.2) Konstruktion von Opferrollen, René Girard
4.2) Realisierung: ‚Fusion-Film’: Literatur, Theater und Film
4.2.1) Literarische Elemente: Schrifttafeln & Erzähler
4.2.2) Theatrale Elemente im Filmraum: Bühne & Ausstattung, Licht
4.2.3) Naturalistische Elemente: Schauspiel & Kamera, Ton, Kostüme
4.2.3.1) Schauspielregisseur und Kamera-Operator
4.2.3.2) Ton: ‚In Dogville we created a whole world’
4.2.3.3) Kostüme: ‚The best costume designers are …’
4.3) Sequenzanalyse: ‚The Final Illustration’: Chapter Nine
4.4) Kollision von Experiment und Emotionen: Grace, das wissenschaftliche Bewusstsein?

5) RESUMEE & AUSBLICK

ANHANG
Verzeichnis der verwendeten Drehbücher, Interviews und Filme
Literaturverzeichnis
Interviews, Artikel und Kritiken aus Printmedien und audiovisuellen Medien
Quellen und Materialien aus dem Internet
Bildnachweise
Musiknoten und Texte
Filmografie Lars von Trier
Filmografie Molly Malene Stensgaard
Filmografie Manon Rasmussen
Filmografie Per Streit
Zum Autor

Leseprobe:
Auszug aus dem Kapitel "Editing: Emotional Cut & Time Cut, sowie Erörterung über Filmisches Denken":

"" An dieser Stelle möchte ich ein Kapitel einfügen, das sich mit Triers und Stensgaards ästhetischer
Auffassung vom Editing auseinandersetzt: Zum einen als Vorbereitung für die Szenenanalyse des
Finales, zum anderen zum besseren Verständnis aller drei Filme.
Ich verwende im Folgenden den Begriff ‚Editing’ umfassend für das, was begrifflich oftmals mit
Schnitt oder mit Montage bezeichnet wird. Ich setzte diesen Begriff bewusst als Überbegriff, um die
anderen beiden Begriffe gemeinsam zu erfassen. Denn ‚Schnitt’ und ‚Montage’ können sich sowohl
auf die handwerkliche Aktion des Schneidens bzw. Zusammensetzens beziehen als auch eine
künstlerisch-ästhetische Bedeutungen haben. So ist der deutsche ebenso wie der englische Begriff des
Schneidens bzw. Cut entstanden, weil der Zelluloidfilmstreifen im wahrsten Sinne des Wortes rein
handwerklich geschnitten wird, während der Begriff der Montage den umgekehrten Weg geht, und
sich darauf bezieht, dass das zuvor in Einzelteile geschnittene Material daraufhin wieder neu
zusammengesetzt wird. Auf ästhetischer Ebene wird mit dem Begriff der Montage seit Eisenstein438
die Kunst verbunden, durch die Kombination der Einzelteile auf künstlerischer Ebene neue
Bedeutungen zu erzeugen. Dem Begriff des Schnittes möchte ich auf künstlerischer Ebene erstens die
zusätzliche Bedeutung von Reduktion und Fokussierung geben, was für Stensgaards und Triers Stil
von Bedeutung ist, und zweitens die Bedeutung eines gedanklichen Sprunges. Wenn ich im Folgenden
den Terminus ‚Editing’ verwende, so meine ich damit sowohl Schnitt als auch Montage, auf
handwerklich-technischer wie auf künstlerisch-ästhetischer Ebene. Ebenso spreche ich demzufolge
immer von ‚Editor’, und nicht von Cutter, Schnittmeister o.ä., wenn es darum geht, die künstlerischästhetische
Qualität mit ihren handwerklich-technischen Fähigkeiten in ihrer Gesamtheit zu erfassen.
Zwei weitere Begriffe kommen hinzu, die Trier und Stensgaard selbst definiert haben, nämlich 1} der
Emotional Cut und 2} der Time Cut. Hinter beiden Begriffen verbirgt sich eine eigens bezweckte
Ästhetik, die sich seit Riget durch die gesamte gemeinsame Arbeit als andauernder
Entwicklungsprozess zieht, und am Beispiel von Dancer in the Dark aufgezeigt werden soll.

EMOTIONAL CUT
1} Die Idee zum Emotional Cut und erste Gehversuche begannen sehr demonstrativ und aufgesetzt,
„when we had this intention to break a lot of rules,“439 also als plakativer Verweis darauf, mit den
traditionellen Wahrnehmungskonventionen brechen zu wollen. Zunächst stand die Idee zum
Formbruch an erster Stelle, die sich erst im Laufe der Zeit mit Inhalt füllen sollte, „the editing and the
camera work in Riget is much more demonstrative and provocative than in Dogville.“440
Derästhetische Grundgedanke war: „We didn’t want to see anything that we found boring so we cut out a
lot of transports [continuity connections].“441
Laut traditioneller Filmästhetik, v.a. des oft maßgeblichen Hollywoodfilms galt (und gilt oftmals für
viele Filmemacher noch heute), dass es falsch sei, zwei Einstellungen, die ein zeitlich unmittelbar
miteinander verbundenes Geschehen innerhalb einer Szene oder Sequenz zeigen, in der Montage
miteinander zu verbinden, sofern sie einander nicht auf zeitlicher und räumlicher Ebene lückenlos
entsprechen und dementsprechend kombiniert werden können.442 Wenn jemand beispielsweise in der
ersten Einstellung geht und den Fuß anhebt, und es wird dann in eine zweite Einstellung geschnitten,
in der die Figur weiterläuft, so müsse die Bewegung exakt an der gleichen Stelle weitergeführt
werden, also der Fuß an der gleichen Stelle in der Luft sein etc. „That are the [traditional] logics of a
scene, the practical way of getting around in the scene. When we worked with Kingdom we had this
strong intention to break those rules.“443 Stensgaard betont, dass sie diese plakative Verwendung von
Mitteln wie z.B. auch Achsensprüngen444 mittlerweile nicht mehr nur um ihrer selbst willen einsetzen
würde:
„If I worked nowadays on an intimate scene […] and I was to realize that I’d chosen the parts
that I liked the most, but I also discovered that I’d crossed the axis every single time I made a cut,
then I would try to moderate it, because it is very demonstrative. […] In Riget we wanted it to be
seen somehow. That’s not so important anymore.“445
Triers Absicht, diese Tradition zunächst einmal nur um des stilistischen Bruches willen zu
überwinden, hat zur Folge, dass sich die Möglichkeit ergibt, zu sehen, welche neuen Wege sich
dadurch eröffnen können. Eine erste Erkenntnis war, dass der Zuschauer sehr wohl dieser anderen
filmischen Erzählweise folgt, solange er den emotionalen Halt zu Figuren und deren Geschichten in
der TV-Serie nicht verliert:
„What we found out was that the audience
could catch up with„What we found out was that the audience could catch up with a lot of things if they have some
kind of emotional line through the scene, if you always have this understanding of the characters
and where they were in a psychological way.“446
Das bedeutet, dass Stensgaard sich als Editorin darauf konzentriert, die richtigen, die wichtigsten, die
stärksten Emotionen der Figuren zu zeigen, und sich erst danach um technische Aspekte wie
Kamerawinkel oder Anschluss der Bewegungen kümmert. Dies ist eine wesentliche Befreiung, denn
bei der traditionellen Weise, Filme zu editieren, schränkt die Fixierung auf technische Details oftmals
die künstlerischen Möglichkeiten ein, so dass mitunter schauspielerisch hervorragende Einstellungen
nicht genommen werden, nur weil das Bild für einen kurzen Moment unscharf wird oder derAnschluss zur
folgenden Einstellung gegen die traditionellen Regeln verstößt. Die klassische
Hollywood-Doktrin ist eine dogmatische Auslegung der Einheit von Raum und Zeit innerhalb einer
Szene, die man mit Boileaus Formulierung der Doctrine Classique und deren Forderung nach
Vraisemblence durch zeitliche wie örtliche Einheit vergleichen kann – ein Verständnis von
Glaubwürdigkeit, das mehrfach zu Recht hinterfragt wurde, denn ist es so wahrscheinlich, dass sich
alle Dinge in zweieinhalb Stunden abspielen, und die Dialogpartner schon für die nächste Szene auf
Stichwort parat stehen?
Emotional Cut bedeutet, dass an erster Stelle immer nach der schauspielerischen Leistung ausgewählt
wird, und zwar nach derjenigen, die den größten emotionalen Gehalt für den Zuschauer hat, oder
anders ausgedrückt: am besten dazu geeignet ist, ihn zu emotionalisieren.
„I just search for the right emotion, the right expression and don’t really care about which size
the picture has and which angle and things like that. I think it’s a very strong way to do it. […]
You can start to have this main focus on the emotional level: What is happening between people,
that is the great interest, right?! […] The acting is always the first decision. […] The acting and
the small things that are right […] to point at the special moments and reactions.“447
Auch wenn, um nur ein Beispiel zu nennen, im französischen Cinéma Filmemacher wie Godard
ebenfalls betonen, dass das Schauspiel an erster Stelle zu stehen habe, nach dem sich die anderen
Mittel wie Kamera und Schnitt zu richten hätten, so bedeutet das noch keinen Emotional Cut in Triers
und Stensgaards Sinne. Denn jene ließen niemals solche technischen ‚Mängel’ wie z.B.
Achsensprünge ausschließlich zugunsten der Emotion zu, auch wenn sie eine Ausrichtung der Technik
nach den Schauspielern verlangten, aber dennoch eine perfekte Technik einforderten.
Grundsätzlich ist die Idee, sich auf „the emotional story and the plot“448 zu konzentrieren, also den
Zuschauer emotional anzusprechen und gleichzeitig die Geschichte zu erzählen, deren emotionaler
Gehalt wiederum die Bindung des Zuschauers an die Geschichte bestimmt, nicht vollkommen neu.
Walter Murch449 versucht in seiner „Rule of Six“450 sechs Kriterien ihrer Bedeutung nach zu
unterscheiden, und die Fixierung auf technische Details zurückzudrängen, und stellt zugleich fest,
warum das Editing nach Emotionen am schwierigsten ist: „At top of the list is Emotion, the thing you
come to last, if at all, […] largely because it’s the hardest thing to define and deal with.“451 Das
bedeutet, dass Emotionen nicht nur das Wichtigste für einen Editor sind, sondern dass die Dominanz
der Techniker vor allem daher rührt, dass es selbst unter denen, die diesen Beruf ausüben, nur wenige
gibt, die sie finden und richtig zusammenfügen können. Gerade dies macht aber den Künstler-Editor
aus, weshalb Murch in seiner als Kontur aufzufassenden Liste der Emotion absoluten Vorranggegenüber den
anderen Elementen wie Geschichte, Rhythmus, visueller Attraktion innerhalb eines
Bildes sowie dem Umgang mit zweidimensionaler Fläche und dreidimensionalem Raum gibt:
„An ideal cut (for me) is the one that satisfies all the following six criteria at once: 1) it is true to
the emotion of the moment; 2) it advances the story; 3) it occurs at a moment that is rhythmically
interesting and ‚right’; 4) it acknowledges what you might call ‚eye-trace’ – the concern with the
location and movement of the audience’s focus of interest within the frame; 5) it respects
‚planarity’ – the grammar of three dimensions transposed by photography to two (the questions of
stage-line, etc.); 6) and it respects the three-dimensional continuity in the actual space (where
people are in the room and in relation to one another). […]
If you find you have to sacrifice certain of those six things to make a cut, sacrifice your way up,
item by item, from the bottom. […] the top two on the list (emotion and story) are worth far more
than the bottom four […] emotion is worth more than all five of the things underneath it. […]
don’t ever give up emotion.“452
Neu an Triers und Stensgaards Ästhetik ist, dass sie die Emotion so wesentlich höher als die
anderen Punkte setzt, wie es in diesem Maße zuvor nicht gemacht worden ist. Erst nach der
Emotion ist für Stensgaard wichtig, dass der Fortgang der Handlung alle wichtigen Informationen
enthält, damit die Geschichte des Dramas erzählt und der Konflikt vorangetrieben werden kann,
„things just have to work. Somehow you have to take care of the logics, but I would say that it’s not
my main interest. But it’s my job to make sure that it works.“453 Die Geschichte muss verständlich
bleiben, aber was den Wert einer Einstellung ausmacht, ist ihr emotionaler Gehalt.

TIME CUT
2} Ebenso begann bei Riget die Entwicklung dessen, was Stensgaard und Trier als Time Cut
bezeichnet haben. Wieder muss zuerst die traditionelle Auffassung von Editing kurz dargelegt werden,
worin es heißt, dass Dinge, die in Echtzeit unmittelbar aufeinander folgen, auch im Film in Echtzeit
dargestellt werden müssten. Stensgaard gibt das allgemeine Beispiel von einer Szene, in der sich
jemand in seiner Wohnung im vierten Stock befindet, ein anderer klingelt an der Türe und nun geht
die Figur aus der Wohnung die Treppe hinunter, um die Türe zu öffnen.454 Laut traditioneller
Auffassung gilt es als unglaubwürdig, wenn die Figur sofort unten an der Türe stünde, weil sie nicht
binnen einer 24stel Sekunde vom vierten Stock ins Erdgeschoss laufen könnte. Trier und Stensgaard
sind der Meinung, dass der heutige Zuschauer diese Erklärung nicht mehr brauche, sondern durchaus
von selbst in der Lage sei, diese Lücke zu füllen, und diesen Zeitlichen Schnitt, eben Time Cut, zu
akzeptieren. Wieder geht es darum, etwas eigentlich unwesentliches, nämlich das Hinunterlaufen auf
der Treppe, wegzulassen, um den Fokus auf das Wichtige der Handlung zu richten. An dieser Stelle
zeigt sich die ästhetische Bedeutung des deutschen Wortes ‚Schnitt’ am deutlichsten, denn es ist
Reduktion und Konzentration auf das Wesentliche. Dies ist der erste Zweck des Time Cut.
Mit dieser Art des Schneidens geht zweitens die bereits im Kapitel zu Breaking the Waves erwähnte
beschleunigte Auffassungsgabe und schnellere Sehgewohnheit des Zuschauers seit den 1990erneinher.
Diese ermöglicht, das Tempo einer Szene anzutreiben: „By using those small time cuts within
a scene we found out that it can also give a special kind of higher pace.“455 Drittens kann in einigen
Fällen über den Time Cut zudem der von Trier oft angestrebte dokumentarische Eindruck verstärkt
werden, „it can give some kind of documentary feeling, too.“456
Des Weiteren bedeutet der Time Cut, dass das zweite Bild, zu dem geschnitten wird, immer stärker
betont wird, also noch mehr Aufmerksamkeit bekommt, was ermöglicht, ein Bild oder eine ganze
Einstellung besonders zu akzentuieren, indem ihr ein Time Cut vorausgeht:
„Furthermore we realized that you look closer at the picture that you cut to, when you take out
time. It’s a way to make it stronger, to sharpen the audience’s perception. So when you take out
time they just have this little jump in their chair and they have to be more interested in what’s
going to happen. […] Sometimes we use this time cut to get things moving and to have some
extra interest in what happened in the time span that we took out.“457
Die Lücke innerhalb ein und derselben Einstellung hat also eine Signalwirkung, welche die
Aufmerksamkeit des Zuschauers innerhalb des 24tel einer Sekunde besonders wachruft und fokussiert.
Die wohl bedeutendste ästhetische Auswirkung des Time Cut ist, dass er darüber hinaus die Phantasie
des Zuschauers anregen kann, indem er ihn dazu bringt, selbst zu evozieren, was in solch einer
ausgelassenen Zeitspanne passiert sein könnte, „using that time cut we found out additionally, that the
audience happens to make up itself what happenend in this little time span. With this you can provoke
the audience to add something.“458 Ein Effekt, der besonders an entscheidenden Wendepunkten
genutzt werden kann, an denen die Figur eine Entscheidung trifft oder ein innerer Sinneswandel
stattfindet:
„For instance, if you have a person who is standing in her own thoughts and then you cut to her
moving, and it might be taken from the same shot, then the audience has this ‘oh, in this span she
decided to do this, and now she is going to do something else.’ If you emphasize something that
is stronger than just seeing – it may be just a very short time span that you toke out –it gives more
energy and with this the audience has the possibility to add something itself.“459
Der Time Cut erfüllt so auf andere Art und Weise eine Funktion, wie sie auch über die
Bildkadrierung erreicht werden kann, wenn innerhalb des Bildes nur Details gezeigt werden, so dass
der Zuschauer den Rest selbst hinzufügt. Die Auslassung verursacht, dass der Zuschauer in seiner
Phantasie mehr sieht als im Bild selbst gezeigt wird. Der Editor Jerry Greenberg äußert in Bezug auf
Bildinhalt und Kadrierung:
„You don’t have to show it happening. The horrible part is that it is happening. The implied
violence is often worse, because once you show it, there’s a sense of release; the mystery is no
longer there. When it’s not shown, the capacity of an audience’s brain is to imagine a whole
panoply of images which will always be worse or more effective than actually seeing it.“460
Bedenkt man, dass die traditionelle Ästhetik ebenfalls nur ein Illusion erzeugendes Konstrukt ist, so
kann man feststellen, dass diese Art, verschiedene Zustände oder Verhaltensweisen einer Figur zu
kombinieren, einen tieferen Einblick in die Figur gewährt und somit die Figur auf psychologischer
Ebene realistischer und vielseitiger darstellen kann: „It is because all these emotions are within her
[Grace], so to me they all seem realistic.“461
Ich fasse die Funktionen und Wirkungen des Time Cut zusammen:
1} Konzentration, Fokussierung und Komprimierung durch das Weglassen
unwesentlicher Vorgänge, die weder Emotion noch Geschichte vorantreiben, sondern nur
der traditionellen Auffassung von räumlicher und zeitlicher Einheit angehören.
2} Ein schnelleres Tempo der Szene, das wegen der schnelleren Lesart von bewegten
Bildern seit den 1990er Jahren möglich wird.
3} Die Möglichkeit, den dokumentarischen Eindruck zu verstärken.
4} Die Betonung und Steigerung der Bedeutung derjenigen Einstellung, auf die
geschnitten wird.
5} Die Evokation der Phantasie des Zuschauers, der selbst antizipiert, was in der
zeitlichen Lücke geschehen sein mag oder muss. Dies kann eine Figur psychologisch
komplexer darstellen, oder auch den Sinneswandel einer Figur visualisieren. Zudem wird
die Darstellung einer Figur intensiviert, weil mehr Emotionen gezeigt werden können.An dieser Stelle seien drei
Beispiele zur illustrierenden Konkretisierung aufgeführt, die Emotional
Cut und Time Cut in sich vereinen:
1) Bess in Breaking the Waves, wie sie sich in der Hochzeitsnacht zum ersten Mal ihrem
unbekleideten Mann nähert – Cut: wie sie bereits freudig lacht und so die ihr neue Situation auflöst. 2)
Linda im Zeugenstand in Dancer in the Dark, wie sie versucht, sachlich ihre Aussage zu machen –
Cut: wie sie sehr emotional bereits in Tränen ausgebrochen ist. 3) Als Vorgriff auf das folgende
Kapitel zu Dogville: Grace schaut mit Tränen in den Augen aus dem Auto heraus zu, wie die
Bewohner von Dogville niedergemetzelt werden, im Hintergrund flackert das Rot des Feuers – Cut:
das Massaker ist bereits zu Ende, im Hintergrund ist das Feuer bereits erloschen, Grace blickt
ernüchtert, rational hinaus auf das bereits vollkommen vernichtete Dorf, daneben ihr Vater, The Big
Man. Wichtig bei diesen Sprüngen ist, dass die Figur für den Zuschauer bei dieser Art der
Kombination verständlich bleibt: „we always want to be sure that you understand the character.“462
Das Editing ist ein nachträglicher Filter, der das gedrehte Material als vorhandenes Material sieht und
die Essenz aus dem Material herausholt. Stensgaard distanziert sich bewusst vom Dreh, um nur das
Material zu sehen, das der Zuschauer zu sehen bekommen wird, sprich um bereits die
Zuschauerperspektive einzunehmen. Deshalb geht sie normalerweise nicht zum Dreh, um nicht zu
wissen, welche äußeren Umstände die Entstehung einer Szene beeinflusst haben könnten. Denn nur
weil die Filmemacher beispielsweise beim Dreh den Eindruck gewonnen haben könnten, dass eine
Szene humorvoll sei, so muss sich das nicht zwingend auch für den Zuschauer erklären. In diesem
Sinne fungiert das Editing wie ein Filter, der die Erklärbarkeit des Gezeigten und Erzählten zu einem
späteren Zeitpunkt nochmals überprüft:
„I prefer to stay away, because I don’t want to know if an actor was stupid or if a special shot was
very expensive and hard work to achieve, or if the crew liked something very much or anything
like that. I don’t need to know that, because the audience doesn’t know that, so I shouldn’t know
that either. […] I have to be occupied with the things that are in the material and no other
things.“466
Diese Arbeitsweise deckt sich mit den Ansichten von Walter Murch, der eine der wesentlichen
Aufgaben für den Editor darin sieht, „the ombudsman of the audience“467 zu sein. Dieser muss sich
seinen freien Blick bewahren, damit er Inspiration aus dem gedrehten Material holen kann:
„I try never to go on to the set […] I only want to see what there is on the screen. Ultimately
that’s all the audience is ever going to see. Everyone else working in the film at that stage is party
to everything going on around the filmed scene: how cold it was when that scene was shot; who
was mad at whom; who is in love with whom; how quickly something was done; what was
standing just to the left of the frame.”468
Die Distanz des Editors trägt entscheidend zur Zusammenarbeit mit dem Regisseur bei, der leicht
Gefahr laufen kann, vom Dreh zu sehr beeinflusst zu sein:
A director particularly has to be careful that those things don’t exert a hidden influence on the
construction of the film. But the editor, who also has an influence on the way the film is
constructed, can (and should, in my view) remain ignorant of all that stuff – in order to find valuewhere others
 might not see value, and on the other hand diminish the value of certain things that
other people see as too important. It’s one of the crucial functions of the editor.“469
Ähnlich wie der Theaterdramaturg manchmal Abstand vom tagtäglichen Probenablauf gewinnen
sollte, um nicht der sprichwörtlichen Betriebsblindheit zu verfallen, so kann auch das Editing als
ähnlicher Filter betrachtet werden. Wie wichtig Trier dieser Filter ist, zeigt sich schon daran, dass er
dem Editing die meiste Zeit gibt, verglichen mit den anderen Phasen der gesamten Produktion. So
dauert der Dreh meist anderthalb bis zwei Monate, bei Dogville nur sechs Wochen, das Editing
hingegen meist sechs Monate, bei Dogville waren es acht.470
Stensgaard bestätigt, dass sich die vorherige Vision aus dem Drehbuch erst beim Editing völlig
entfaltet und Trier sich viel Zeit nimmt, um beim Editing alle erdenklichen Möglichkeiten
auszuprobieren:
„I try to keep the editing quite simple for a long time, so that it is very easy to have other ideas. I
try to change things all the time such as ‚maybe I should do it like this’. I try not to get somehow
captured in a lot of sounds, layers, video layers and things like that, so I have this mobility a
longer time.“471
Die Funktion des Editing als zusätzlicher Filter bezieht sich nicht zuletzt auch auf den Umgang mit
Klischees. Der Begriff Klischee ist an dieser Stelle im weitesten Sinne gemeint: „down to the basics:
What is the cliché of two people meeting, an arrival or whatever, you have to be sure of that, you have
to know that – and then you avoid it.“472 Es geht um bestimmte Muster, die der Zuschauer mit
bestimmten Situationen in Verbindung bringt: Ein Klischee von einer Verabschiedung wäre in diesem
Sinne z.B. ein abfahrender Zug und eine zurückgebliebene Figur, die weint und dem Zug mit einem
weißen Taschentuch hinterherwinkt. In Triers Drehbücher lassen sich einige sehr plakative Beispiele
finden, von denen zwei extreme hier exemplarisch aufgeführt sein sollen: 1) Im Drehbuch zu Breaking
the Waves kommt eine Szene vor, in der Dr. Richardson Bess vor zuviel Mitleiden mit Jans zu
erwartendem Tode bewahren und sie mit einer Umarmung trösten will, woraufhin es im Drehbuch
heißt: „Bess gets a pistol out of her pocket. She points it at him. – BESS: Touch me again and I’ll kill
you.“473 Diese Szene sollte sich im Film vor dem Beginn von Bess’ Passionsweg befinden, was diesen
so überdeutlich motiviert hätte, dass der Zuschauer ihn auch als Amoklauf hätte missverstehen
können. Die Szene wurde herausgeschnitten. 2) Eine Steigerung findet sich im Drehbuch zu Dancer in
the Dark, wenn Selma sich bereits im Todestrakt befindet und ihre Henkersmahlzeit serviert bekommt:
„State Penitentiary, death row with two cells. Int. / Night. Selma’s last meal is being served … it’s a
hamburger meal from McDonald’s.“474 Stensgaard meint dazu: „Sometimes there are lines and acting
and expressions that are a cliché. And Lars works a lot with clichés in his stories. When you read the scripts,
sometimes you think ‘oh please, come on, you cannot do that!’“475 Worum es beim Editing
geht, ist der bewusste Umgang mit Klischees, um sie 1) entweder zu vermeiden, 2) in speziellen
Einzelfällen gezielt einzusetzen, oder 3) zu parodieren. Letztlich sind Klischees bestimmte
Erwartungen des Zuschauers, dessen antizipierende Hypothesenbildung auf bekannte Muster reagiert.
Für das Finale von Dancer in the Dark wird das von entscheidender Bedeutung sein, denn es wird um
nichts Geringeres gehen, als einen Weg zu finden, im Editing eine glaubhafte Zusammensetzung von
Superrealismus und Stilisierung zu erreichen. Die Leistung des Editing für das Finale von Dancer in
the Dark ist, dass Selmas Gesang am Galgen nicht als unglaubwürdiges Klischee vom Zuschauer
abgelehnt werden wird: „The editor has to imagine the audience’s point of attention.“476
„You have to know what kind of expectations you have when you enter a scene like this […]
and then you have to play with them. […] for an editor it’s very important to have this strong,
strong sense of what clichés and expectations are on a film.“477
Stensgaards Einfluss auf die letztendliche Gestaltung der Figuren ist enorm, wenn man bedenkt, dass
sie oft die Vorauswahl der zu verwendenden Einstellungen trifft. So erzählt sie am Beispiel von
Manderlay: „I get an idea what Grace should be like in this scene, I think that this reaction seems right
and that way of seeing her and hearing her lines seems right, then I take out the things that are around
that, and then I start combining.“478 Nach der Bedeutung des Editing im Prozess des Filmemachens
gefragt, antwortete der Editor, Produzent und Regisseur Harold Kress: „I see myself as a moviemaker.
If you’re an editor, you’re a moviemaker.“479

ERÖRTERUNG ÜBER FILMISCHES DENKEN
Im Kapitel zu Breaking the Waves habe ich erwähnt, dass der Schwenk und die Handkamera viel
Konzentration seitens des Zuschauers verlangen und häufig als nicht so harmonisch empfunden
werden wie der Schnitt. Um die damit aufgeworfene Frage, warum dies so ist, beantworten zu können,
muss zunächst eine viel grundlegendere gestellt werden: Warum funktioniert Editing, das Schneiden
und Montieren von Bildern überhaupt? Dies ist keine Selbstverständlichkeit, auch wenn es uns
selbstverständlich erscheint, weil wir daran gewöhnt sind bzw. weil es zu Beginn der Filmgeschichte
ausprobiert wurde und seitdem funktioniert. Wie im Kapitel zu Breaking the Waves erwähnt,
entspricht der Schwenk, also die Bewegung der Kamera von einer Position zur anderen ohne
Unterbrechung durch einen Schnitt, der rein physikalischen Fähigkeit unserer Augen. Aber wann hätte
ein Mensch schon einmal im Bruchteil einer 24tel Sekunde mit seinen Augen von einem Ort an einen
komplett anderen springen können, geschweige denn in einer 24tel Sekunde rein physikalisch in der
Zeit springen können? Unsere Augen sind nicht dazu in der Lage, aber dennoch akzeptieren wir diese
Art von Kombinationen mit Sprüngen im Film – und empfinden sie oftmals als harmonischer als das
Schwenken.
Walter Murch ist aufgrund eigener Beobachtung der Ansicht, dass das Blinzeln der Augenlider nur
zum einen biologisch begründet ist, zum anderen aber auch immer dann stattfindet, wenn Menschen
einen Gedankengang abgeschlossen haben bzw. einen neuen beginnen:
„the blink is either something that helps an internal separation of thought to take place, or it is an
involuntary reflex accompanying the mental separation that is taking place anyway […] the
essence of what we have to say is often sandwiched between an introduction and a conclusion.
The blink will take place either when the listener realizes our ‚introduction’ is finished and that
now we are going to say something significant, or it will happen when he feels we are ‚winding
down’ and not going to say anything more significant for the moment. And that blink will occur
where a cut could have happened, had the conversation been filmed. Not a frame earlier or later.
[…] we blink to separate and punctuate that idea from what follows […] the cut is a ‘blink’ that
separates and punctuates […] ideas.“480
Filmediting, Schnitt und anschließende Montage, bedeutet folglich, dass sich der Schnitt als Zäsur
zwischen zwei Einstellungen befindet, wo eine gedankliche Schnittstelle ist. Die zwischen zwei
Punkten liegende Einheit, die Idee, beinhaltet zweierlei intellektuellen und einen emotionalen Gehalt,
der sich zwischen Anfangs- und Endpunkt befindet: Der intellektuelle Gehalt bezieht sich erstens
darauf, dass die Geschichte sich erzählt (Informationsvergabe, Storytelling) und zweitens auf die
tiefere Bedeutung der Geschichte. Beispiel: Selma und Bill erzählen sich gegenseitig ihre
Geheimnisse. Die reine Informationsvergabe ist, dass Selma erblindet, und dass Bill kein Geld mehr
hat. Der tiefere Gehalt ist, dass wir über die Art, wie Selma ihr Leiden herunterspielt, einen über die
Informationsvergabe hinausgehenden Einblick in die Figur gewinnen. Der emotionale Gehalt ist, wie
die beiden sich ihre Geheimnisse gegenseitig verraten, d.h. was passiert, wenn zwei Menschen sich
einander anvertrauen. Diese drei Punkte stehen in Relation zu den sie umgebenden Einstellungen wie
zum insgesamten Film. Solche Zweier-Dialog-Szenen sind nach Ansicht vieler Editoren die
schwierigsten Szenen,
„because with an action sequence you’re cutting on movement. It always gives you justification
to cut and create its own rhythms. […] In dramatic cutting you have to create your own rhythm
[…] you must try and remain faithful to the internal rhythms of an actor’s performance.“481
Intellektueller und emotionaler Gehalt geben das vor, was Murch und Stensgaard mit Rhythmus
meinen, „you establish a rhythm that counterpoints and underscores the ideas being expressed or
considered.“482
Wenn wir davon ausgehen, dass der filmische Schnitt wie eine gedankliche Zäsur, ein gedanklicher
Sprung funktioniert, bekommen wir die Antwort darauf, weshalb Schnitt überhaupt funktioniert,
nämlich weil wir in Gedanken springen können, so wie es der Filmschnitt tut. Oder anders herum
formuliert: Der filmische Schnitt kann eine Struktur herstellen, die unserer intellektuellen Fähigkeit
des Denkens in räumlichen und zeitlichen Sprüngen entspricht.
Ich stelle fest: Der Film ist die einzige Kunstform, welche es vermag, die menschliche Art des
Denkens zu visualisieren. Deshalb vergleicht Murch die zeitlichen wie räumlichen Sprünge eines
Schnitts nicht mit unserer physikalischen Wahrnehmung durch das Auge, sondern mit den
gedanklichen Vorgängen in unseren Köpfen während wir träumen: „We accept the cut because it
resembles the way images are juxtaposed in our dreams. In fact, the abruptness of the cut may be one
of the key determinants in actually producing the similarity between films and dreams.“483 Murch sieht
einen Beleg dafür im Vergleich, dass die Gedankenwelt von Träumen wie Filmen die gleiche Wirkung
auf emotionaler Ebene auslösen können: Wenn ein Kind einen Alptraum gehabt hat, wird es von der
Mutter mit den Worten beruhigt, es brauche keine Angst zu haben, es handele sich doch nur um einen
Traum, und hat das Kind Angst wegen eines Filmes, so brauche es sich auch nicht zu ängstigen, es
handele sich doch nur um einen Film. „Frightening dreams and films have similar power to
overwhelm the defenses that are otherwise effective against equally frightening books, paintings,
music. For instance, it is hard to image this phrase: ‘Don’t worry, darling, it’s only a painting.’“484 Der
Begriff vom (Hollywood-) Kino als Traumfabrik bekommt eine feinsinnige Doppelbedeutung.
Film kann gedankliche Strukturen erstellen. Meine These ist: Diese Strukturen werden nicht bloß als
Nachahmung gesehen, sondern vom Betrachter wie seine eigenen, im Moment stattfindenden
Gedanken wahrgenommen und erlebt, weil ihm im Bruchteil einer 24stel Sekunde überhaupt nicht die
notwendige Reaktionszeit bleibt, um sich zu distanzieren. Die Suggestion ist enorm, denn der Film
täuscht dem Zuschauer vor, es handele sich um nichts Geringeres als dessen eigene Gedanken. Unsere
eigenen Gedanken sind uns aber zumindest aus dem Moment heraus unsere ureigenste Wahrheit. In
diesem Punkt liegt meiner Meinung nach der alles entscheidende Hauptgrund, weshalb der Film die
Kraft besitzt, Identifikation und Emotionalisierung zu erreichen. Deswegen wird das filmische Bild
tendenziell für glaubwürdig gehalten. Tendenziell heißt, immer dann, wenn der Film so gut
geschnitten ist, dass seine gedankliche Struktur funktioniert. Im besonderen Maße in Kombination mit
dem naturalistischen Stil wird der Eindruck eines Abbildes von Realität als Wahrheit (im Sinne
Tarkowskijs) vom Zuschauer fast ausnahmslos als eigene Sicht auf die Welt anerkannt – zumindest in
dem Moment, wenn der Film rezipiert wird. Erst nach der Filmvorführung wacht der Zuschauer aus
seinem Filmtraum auf. Erst dann kann er aus der Distanz entscheiden und beurteilen. Mitunter werden
die gewonnenen Eindrücke aus den filmischen Bildern des Öfteren mit dem gleichen Stellenwert im
Gehirn aufbewahrt wie Gedanken zu Erfahrungen aus dem realen Leben; deshalb wirken Angst
einflößende Filme meist noch längere Zeit nach. Mit anderen Worten, der Film kann uns
manipulieren, weil er uns vortäuschen kann, dass es sich um unsere eigenen Gedanken handele.
Dementsprechend intensiv wird der Film wahrgenommen und verarbeitet. Im Film nehmen wir eine
Welt wahr, die durch Interpunktion bereits strukturiert ist, dergestalt dass eben die gedankliche
Abfolge vorgegeben ist. Folglich können Schnitt und Montage Gedanken nicht nur nachahmen,sondern auch produzieren.
„Film is like thought. It’s the closest to thought process of any art.“485
Dadurch, dass der Film eine gedankliche Struktur erschafft, bringt er auch Harmonie und Ordnung in
die gezeigte Welt. Eben deswegen empfindet der Zuschauer den Schnitt als harmonischer als das
Schwenken, denn jener verschafft Überschaubarkeit.
Der Film vereinnahmt den Zuschauer auf intellektueller wie emotionaler Ebene, weil der Schnitt über
das Erstellen von gedanklichen Zäsuren die Art des menschlichen Denkens visualisieren kann, so dass
der Zuschauer aus dem Moment heraus das Gezeigte wie seine eigenen Gedanken erfährt. Diese
vermeintlich eigene Erfahrung ist in dem Moment, wenn sie stattfindet, wahrhaftig. Indem der Film
uns suggeriert, es handele sich um unsere eigenen Gedanken, gelingt es ihm, uns beispielsweise in
Angst zu versetzen, selbst wenn wir uns beim Zusehen ständig sagen, dass es sich nur um Fiktion
handelt. 1859 wetterte Charles Baudelaire gegen zu viel Nachahmung und zu wenig Kunst in der
Fotografie, die sich nicht die Freiheit nehme, künstlerischen Ausdruck zu suchen, „dabei ist es ein
Glück zu träumen, und es wäre ein Ruhmestitel, könnte man ausdrücken, was man träumt.“486 Heute
ist der Film eine Kunst, die Träume erschaffen und darstellen kann, die vom Zuschauer als Abbildung
ihrer eigenen Wirklichkeit wahrgenommen werden.
Die gedanklichen und auch die filmischen Sprünge sind eine Methode, mit der wir einen Sinn in
unsere Welt bringen: „We must render visual reality discontinuous, otherwise perceived reality would
resemble an almost incomprehensible string of letters without word separation or punctuation.“487
Diskontinuierlichkeit im Sinne von gedanklichen Sprüngen von einer Sache zu einer anderen bringt
also Struktur in unser Denken, und so wird der Schnitt als harmonisch empfunden, weil er die Welt
der bewegten Bilder gedanklich strukturiert, „editing […] is not so much putting together as it is a
discovery of a path.“488 Wenn das Editing funktioniert, kann auch mit der Handkamera und
Schwenken erreicht werden, „to reinforce the subjective feel of a shot“489, ohne die gedankliche
Struktur zu zerstören. Wird im Film viel geschwenkt und wenig geschnitten, so ist die gedankliche
Strukturierung nicht gleich abhanden gekommen, aber sie erfordert wesentlich mehr Konzentration,
um die gedankliche Orientierung aufrechtzuerhalten und Sinn in die dargestellte Welt zu bringen.
Ähnliches gilt für den Schnitt von einer Einstellung zu einer sehr ähnlichen, beispielsweise von einer
nahen zu einer halbnahen Einstellung. Es bleibt zu erörtern, inwieweit die menschliche Art zu denken
im Allgemeinen und inwieweit Wahrnehmungskonventionen im Speziellen dabei eine Rolle spielen,
dass wir deutliche Wechsel z.B. von einer Totalen hin zu einer Detailaufnahme akzeptieren, mit
geringfügigen Wechseln aber Probleme haben, weil sich Kontinuität und Diskontinuität nicht in
entscheidendem Maße genug voneinander abheben:
„What we do seem to have difficulty accepting are the kind of displacements that are neither
subtle nor total: […] The displacement of the image is neither motion nor change of context, and
the collision of these two ideas produces a mental jarring – a jump – that is comparatively
disturbing.“490
Trier setzt den Schwenk nicht maßlos ein, aber er nutzt ihn als Konzentration einforderndes Mittel, als
seinen visuellen „pebble in the shoe.“491 Schwenken kann dazu zwingen, das Blinzeln des Auges nicht
vorzugeben, bzw. den Zuschauer dazu auffordern, nach den Zäsuren selbst zu suchen. Auch wenn wir
rein physikalisch mit unseren Augen nur schwenken können, schneiden wir im Geist. Das Schwenken
entspricht nicht so sehr unserer Art zu denken wie das Schneiden, weil wir das, was wir bei einer
Kopfdrehung sehen, geistig in Sprüngen verarbeiten. Unser Auge mag rein physisch von einem
Gesprächpartner zum anderen schwenken, aber gedanklich springen wir im Verlaufe einer
Konversation von dem einen zu dem anderen. Würde man uns nach einem Gespräch danach fragen,
was wir gesehen haben, würden wir einzelne Bilder der Gesprächspartner wiedergeben, aber nicht die
unterbewusst herausgefilterten Dinge zwischen ihnen, die wir geistig sofort aussortieren. Genau diese
Dinge zeigt uns Trier beim Schwenken, so dass der Zuschauer sich anstrengen muss, das
entscheidende Bild zu erkennen. Im Film kann Schwenken manchmal sein, als nehme man den Kopf
des Zuschauers und drehe diesen mit Gewalt zum Objekt, das betrachtet werden soll. Schnitt hingegen
ist meist ein elegantes Umblättern vor unseren Augen. Im Gegensatz zum Schwenk setzt der Time Cut
einen Gedanken in eine Szene, indem der gedankliche Sprung über den filmischen Schnitt als Sprung
visualisiert wird – eine Unterteilung in zwei Ideen, die nachträglich in die ursprünglich durchgehende
Einstellung eingefügt wird, und dadurch beim Zuschauer eine weitere Idee evoziert.
Die hohe Kunst des Editors besteht darin, die gedankliche Struktur eines Filmes zu finden und zu
kreieren, denn „the cut itself does not create the ‚blink moment’“492; Schnitt und Montage müssen aus
dem Material gefunden werden: „each film has its own pace and its own way that comes from the
material and from the characters and you have to get into that so that you can find what you need.“493
Der Editor muss dreierlei Dinge tun: Als erstes eine Reihe von möglichen Schnitt- und
Montagemöglichkeiten aus dem vorhandenen Material herausfinden, als zweites festlegen, welche
Kombinationsmöglichkeit welche Effekte auf den Zuschauer haben, und drittens die
Kombinationsmöglichkeit auswählen, die für den Film funktioniert, d.h. welche die bestmögliche
gedankliche Struktur für Emotion und Geschichte erfasst. „Your job [as an editor] is partly to
anticipate, partly to control the thought processes of the audience.“494 Im Endeffekt geht es darum, den
Film zu Gefühlen und Gedanken des Zuschauers zu machen. Ist der Film auf gelungene Art und Weise
geschnitten, kann sich v.a. der ungeschulte Zuschauer der Emotionalisierung kaum mehr erwehren.
Den richtigen Punkt für jeden einzelnen Schnitt und dessen Kombination mit der nächsten Einstellung
zu finden, ist die Kunst des Editors, der darin intellektuellen und emotionalen Gehalt erfassen muss.
Die dafür notwendige Schlüsselqualifikation ist jenseits der handwerklichen Fähigkeiten „a great
sense of empathy.“495 Der Editor erschafft aus dem Material eine gedankliche Struktur, die es zuvor
noch nicht gegeben hat.
Hinsichtlich der beschleunigten Auffassungsgabe des Zuschauers seit den 1990er Jahren ist
abschließend anzumerken, dass Stensgaards Qualität als Editorin gerade darin besteht, trotz der
schnelleren Wahrnehmungsfähigkeit die Langsamkeit des Bildes wiederzuentdecken, wie es z.B. in
der Szene beim Kampf auf Leben und Tod zwischen Selma und Bill der Fall ist:
„it’s much about being able to have rhythmical differences during this sequence […] sometimes it
goes totally slow and everything is held up and all of a sudden it blows up. […] If you do go into
high speed and then it goes like an action movie the whole time then you become used to that –
and it bores you.“496
Es geht um eine gekonnte Mischung von Schnelligkeit und Langsamkeit. Zudem bemerkt Stensgaard,
dass sie für diese Szene, in welcher Selma panisch wird, vermehrt zu Schwenks greift. Es ist die
richtige Rhythmisierung von Selmas Aktionen und den Pausen, in denen sie sich überwinden muss,
Bill umzubringen: „We wanted to show a very lousy murder – it’s no Tarantino murder, right? This
was the main thing that we tried to achieve that it should be as painful as possible for her.“497 Das
erklärt sich nur über die richtige Kombination von Schnelligkeit und Langsamkeit, über den
Rhythmus.
Danach gefragt, welche Szene sie selbst für eine der gelungensten aus allen bisherigen Filmen hält,
antwortet Stensgaard: „I am still convinced that the finale of Dancer in the Dark is one of the best
scenes that we have done – it’s horrible. (laughs) I saw it a few days before without seeing the whole
movie, because I had to find some examples and I think it’s really disgusting in the right way.“498 ""



Rezension [Auszug]:
http://www.theaterforschung.de/rezension.php4?ID=1000

Autorin der Rezension: Ulrike Sümegi

"Dieses Buch leuchtet in der Nacht. Es schillert und lockt, es weicht zurück, es verführt und verstört, es grinst dich an und streckt dir die Zunge heraus, und mit dieser Zunge leckt es dir über deine Hand, was sich eklig anfühlt, aber auch gut. Dieses Buch zieht dich an durch seine Naivität, seine Direktheit, seine Abgeklärtheit, seine Angst; alles ist drin in diesem Buch, die Liebe, die Romantik, die Suche, bis der Kopf sich weitet und schließlich platzt, das ewige Drama der Jugend und auch der spöttische Blick all derer, die sich zu gut waren für dieses Drama und in einer Welt leben ohne Geheimnis. Es ist schön und furchtsam und furchtlos, so selbstsicher ist dieses Buch, es ist ein Buch aus unseren Zeiten. Es ist der Blick auf das Neue, der in diesem Buch steckt. [...] Daß das Buch trotz aller Düsterheit leuchtet, liegt am fulminanten Stil des Autors, der in langen Wortkaskaden das Unerklärliche ebenso fein und realistisch beschreibt wie die Realität, die im Regen davonschwimmt. Der so eindringlich menschlich, melancholisch und luzide schreibt, vom Innersten des Menschen, von den verborgenen Winkeln der Seele. Es ist ein düsteres, funkelndes, kleines Meisterwerk.
Der vorliegende Band nähert sich behutsam aber detailliert und genau dem Phänomen Lars von Trier. [...] Georg Tiefenbach legt eine Monografie vor, die eben auch die vorhandenen Vorurteile, Klischees und Pauschalisierungen reflektiert und mitdenkt. In diesem skizzierten Spannungsverhältnis der Rezeption darf man sich auf ungefähr 236 Seiten umfassend über Lars von Trier und seine Filme informieren.
Das Ergebnis beruht auf veränderten Rezeptionsmodalitäten und -gewohnheiten [...], die mit kürzeren Spannungsbögen, mit der Erwartung eines Wechsels der semiotischen Modalitäten und der kommunikativen Register, mit der psychologischen Flachheit respektive der Figurenhaftigkeit der Protagonisten sowie der Durchbrechung der Regeln einer Dramaturgie rechnet, die der Stringenz und Dichte der Erzählung verpflichtet ist. So nimmt er eine rezeptive Haltung ein, die einer postmodernen Rezeption zuzuschlagen ist, für die das Gemachte eines Films ebenso durchsichtig ist wie die Geplantheit der Rezeptionseffekte.
Doch nicht nur wegen der ansteckenden Begeisterung des Autors ist Drama und Regie eine spannende und anregende Lektüre. Allen Texten kommt Tiefenbachs genaue Kenntnis der Filmsprache, Filmästhetik und Filmtechnik zugute. Es entsteht eine Textdichte, die sich in dieser Form nicht oft finden läßt. Technik und Philosophie, Theorie und Kunst sind selten so dicht beieinander zu finden, ihre Interdependenzen werden spürbar. [...] Die den Hauptteil des Bandes umfassende Dokumentation beinhaltet narratologische und dramaturgische Aspekte im Film. Wie funktionieren Geschichten und Figuren? In welchem Zusammenhang steht die Geschichte zur Wahl des Regiestils? Was bedeuten Naturalismus und Realismus, Stilisierung, Abstraktion und Reduktion? Wie wird der Zuschauer emotionalisiert und zum Weinen gebracht. Diese Fragen werden exemplarisch an den Hauptwerken des dänischen Autor Regisseurs Lars von Trier erörtert, die in detaillierten Analysen aufgeschlüsselt werden. Die Kapitel sind mit Szenenbildern aus den Filmen illustriert. Tiefenbachs informativem Band dürfen damit alles in allem fast schon Ambitionen zu einem einleitenden Standardwerk unterstellt werden.
[...] handelt es sich bei Tiefenbachs Drama und Regie um die erste umfassende Analyse der Filme Breaking the Waves, Dancer in the Dark, Dogville. Zunächst sticht seine kulturwissenschaftliche Perspektive ins Auge, die sich in Bezug auf Triers Oeuvre als besonders fruchtbar erweist und weit über die sonst übliche Einordnung der Filme in die Filmgeschichte hinausreicht. So skizziert Tiefenbach nicht nur den soziokulturellen Background ihrer Entstehung, sondern spürt auch mit akribischer Genauigkeit den zahlreichen Anspielungen und Verweisen nach, von denen Lars von Triers Filme nur so strotzen. So unterschiedliche Phänomene wie Hinrichtungsszenen im Film sind ein dankbares Motiv (S.119f.) werden ebenso beleuchtet wie Arroganz und Rache, Dreigroschenoper (S.134f.) und Literarische Elemente: Schrifttafeln & Erzähler (S.156f). Auf diese Weise ergibt sich ein vielschichtiges Bild des schier unendlichen kulturellen Kosmos dieser Filme.
Auffällig ist weiterhin, daß Tiefenbach die in vergleichbaren Büchern notorisch unterschätzten Leistungen der Mitarbeiter des Regisseurs, die maßgeblich zur Qualität der Filme beitragen, differenziert aufzeigt. Zu Recht besonders hervorgehoben ist der Einfluß der langjährigen Kostümbildnerin Manon Rasmussen, die den ästhetischen Stil zahlreicher Filme entscheidend mitgeprägt hat.
[...] Aber auch die Bedeutung der Editorin Molly Malene Stensgaard (S.185f.) und des Tonmeisters Per Streit (S.193f.) stellt Tiefenbach eindrucksvoll heraus.
Die dritte große Stärke der Analyse liegt in den detaillierten und kreativen Herausarbeitungen der Erzählstrategien. Formen, Farben, aber auch spezielle Motive bestimmen Wirkung und Aussage der (Kapitel-) Bilder. Oft springt eines dieser Elemente besonders ins Auge. Nicht nur der goldene Schnitt kann ausgewogene Spannung verleihen. Wie wird Stabilität oder Dynamik erzeugt, wie der Blick in die Tiefe oder auf ein bestimmtes Detail gelenkt? Wie gelingt es, in einem einzigen Bild eine ganze Geschichte zu erzählen? [...] die Qualität dieses trotz des hohen inhaltlichen und sprachlichen Niveaus leichtfüßig wirkenden und dementsprechend durchweg sehr gut lesbaren Buchs. So scheint aus dem Buch das hervor, was auch das Zitat von Ingmar Bergmann, dem Band als Motto vorausgestellt, vermittelt und das alles zusammenfaßt, was der Autor dem Leser mitzuteilen hat:
„Es gibt trotz allem menschliche Relationen und Lebensäußerungen, die unabhängig von der sozialen Struktur unserer Gesellschaft existieren. Ich meine die Liebe, ich meine die Lebensangst und die Todesangst, Glauben und Zweifel, den Schmerz der Einsamkeit und die Freude der Sinneslust, den unvernünftigen Hass und die unfassbare Bosheit, die Spielfreude und die Zärtlichkeit eines Augenblicks, das Mysterium des Leidens, Träume und Hoffnungen – eine Welt von fließenden, wechselnden geheimnisvollen Gefühlen und Leidenschaften" (S.9).
„Drama und Regie. Lars von Triers Breaking the Waves, Dancer in the Dark, Dogville stellt zweifelsohne das neue Maß der Dinge in der Trier-Forschung dar. Nicht zuletzt, weil es dazu anregt, sich die Filme noch einmal – nun mit erweitertem Horizont und nochmals gesteigertem Lustgewinn – anzusehen.



Diplomschrift:

Georg Tiefenbach: Wege des Filmischen Erzählens. Präsenzbibliothek Kulturwissenschaften München.



Wissenschaftliche Schriften [Auswahl]:

Erzählen im Roman, Film und Theater.
"Les Particules élémentaires" von Michel Houellebecq, Bernd Eichinger und Johan Simons.

Dramaturgie des Mythos: C.G. Jung, Joseph Campbell, George Lucas

Die Komödie der Italienischen Renaissance

Inszenierungskonzept "Elektra"

Musik, Kultus und Drama, Nietzsche und Wagner

Werkanalyse: "Kabala & Liebe"

Die Becher-Schule: Andreas Gursky

Über Marcel Duchamps

Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" an den Münchener Kammerspielen

Weber inszeniert Schiller am Münchener Residenztheater, Wallenstein-Trilogie

Die Suche nach dem Selbst: Kleists "Amphytrion aus Hegelscher Perspektive

Georg Büchner, Betrachtungen zum Gesamtwerk

Hitchcocks "Dial M for Murder"

Max Keller, Lichtgestaltungan den Münchener Kammerspielen in Dieter Dorns Shakespeare-Inszenierung "Mittsommernachtstraum"